Andreas Lubitz. Dieser Name wird uns nie mehr verlassen. Der Amok-Pilot, der 149 weitere Menschen in den Tod flog, wird als einer der größten Massenmörder in die deutsche Kriminalgeschichte eingehen.
Neben Carl Großmann, der „Bestie vom Schlesischen Tor“, der bislang als Mörder mit den vermutlich meisten Opfern in Deutschland galt. Geschätzte 100 Menschen wurden von Großmann getötet und anschließend zum Teil zu Wurst und Dosenfleisch verarbeitet. Bevor ihm im Juli 1922 der Prozess gemacht werden konnte, erhängte Großmann sich in seiner Gefängniszelle in Berlin-Moabit.
Und neben Fritz Haarmann, dem „Totmacher“, der 1924 in Hannover zum Tode verurteilt wurde, nachdem ihm 24 Morde an jungen Männern nachgewiesen werden konnten. Haarmann wurde sogar Teil schauriger Folklore. „Warte, warte noch ein Weilchen, dann kommt Haarmann mit dem Hackebeilchen“ summten die Menschen in Hannovers Gassen damals, um ihre Angst vor dem Bösen zu bannen.
Aber ist die Kategorisierung Lubitz’ als Massenmörder überhaupt statthaft?
Ist ein erweiterter Selbstmord, der den Tod von 149 unschuldigen Menschen in Kauf nimmt, streng genommen überhaupt ein Massenmord?
„Man spricht bereits von Massenmord, wenn zwei oder mehr Opfer durch die dieselbe Person getötet werden, insofern ist es natürlich Massenmord“, sagt Professor Hans-Jürgen Kerner, Leiter der Kriminologischen Gesellschaft (KrimG), der wissenschaftlichen Vereinigung deutscher, österreichischer und schweizerischer Kriminologen.
Unter forensischen Psychiatern, also Ärzten, zu deren Hauptaufgabengebiet es gehört, kriminelle Handlungen aus medizinischer Sicht zu untersuchen, kursieren derzeit zwei Arbeitsthesen zum Fall Lubitz:
Erste These
Lubitz litt an einem sogenannten „malignen Narzissmus“, einer bösartigen Persönlichkeitsstörung, zu deren Merkmalen laut Otto Kernberg, dem in New York lehrenden, langjährigen Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), „extreme Kränkbarkeit und fehlende Empathie“ gehören.
Das heißt: komplette Gefühlskälte, bei der man unfähig ist, sich in das Leid anderer hinein zu fühlen. Für Lubitz’ extreme Kränkbarkeit spricht, sagt auch Professor Kerner, die Tatsache, dass sich Lubitz von seinen Pilotenkollegen wegen seiner Vergangenheit als Steward („Tomaten-Andi“) gedemütigt fühlte und, wie nun Stück für Stück herauskommt, wegen des Arbeitsdrucks Hassgefühle gegen seinen Arbeitgeber entwickelte.
Eines der Kennzeichen einer solchen Störung ist nach Otto Kernberg das „Gefühl der Macht über Leben und Tod – ein rauschartiges Gefühl“, das womöglich auch von Lubitz Besitz ergriff, als er die Chance sah, nicht nur sich sondern auch 149 unschuldige Menschen in den Tod zu reißen.
Zweite These
Sie steht der ersten Arbeitsthese diametral entgegen. Sie lautet: Auslöser des erweiterten Selbstmordes war ein sogenannter Raptus, wörtlich „Riss“.
So bezeichnen Psychiater die plötzliche Entscheidung eines depressiven Patienten, sich umzubringen. „Typisch für Patienten mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung sind Allmachtsfantasien, die man dann auch verbal äußert“, sagt Dr. Manfred Lütz, Leiter der Psychiatrischen Klinik der Alexianer in Köln, „die Tatsache, dass er auf die Versuche des Kapitäns, die Tür aufzubrechen nicht reagierte, spricht nach derzeitigem Informationsstand eindeutig für einen solchen Raptus.
Ein typischer Amoktäter hingegen verhöhnt in solchen Momenten noch seine Opfer oder rühmt sich seiner Machtposition, das tat Lubitz ja offenbar nicht.“
Das bedeute auch, sagt Lütz, dass der Todespilot, als er das Flugzeug gegen das Bergmassiv steuerte, sich im Cockpit „subjektiv allein gefühlt“ habe und „die 149 Menschen an Bord aus seinem Bewusstsein ausgeblendet“ habe.
Lütz: „Meine These ist: Der Kapitän verließ das Cockpit, die Tür fiel zu und genau in diesem Moment fiel die Entscheidung, die Bordautomatik auf Sinkflug zu setzen. Selbst wenn er sich wenige Sekunde später von diesem Raptus erholt haben sollte, war für ihn diese Entscheidung dann nicht mehr reversibel, er konnte sie also nicht mehr rückgängig machen. Hätte er die Tür dann doch noch geöffnet, wäre er in Erklärungsnotstand gekommen.“
Für einen Raptus spreche, sagt Lütz, auch die Tatsache, dass er wenige Tage vor der Tat noch einen Psychiater aufgesucht habe, denn: „Ein Amoktäter sucht keinen Psychiater auf.“
Sind psychisch Kranke die gefährlicheren Menschen?
Beide Thesen werfen allerdings eine nach großen Verbrechen immer wieder gestellte Frage auf: Sind psychisch kranke Menschen gefährlicher als gesunde Menschen?
In dieser Frage zumindest herrscht unter Wissenschaftlern Einigkeit: Psychisch kranke sind nicht gefährlicher als gesunde Menschen! Depressive Störungen und Angsterkrankungen machen Menschen angeblich sogar weniger gefährlich als die Durchschnittsbevölkerung. „Auch Menschen, die keine psychische Erkrankungen haben, können ungeheuerliche Taten begehen“, sagt Professor Kerner von der Kriminologischen Gesellschaft.
60 Prozent aller Tötungsdelikte werden von völlig gesunden Tätern begangen – im Affekt, oft unter Alkoholeinfluss, weil die Täter für einen Moment die Kontrolle verlieren.
„Es gibt wenige wohldefinierte Störungen, von denen man sagen kann, von ihnen gehe ein erhöhtes Risiko aus – das sind im Wesentlichen die Wahnerkrankungen“, sagt Professor Reinhard Haller, eines der renommiertesten forensischen Psychiater Europas, dessen Gutachten auch im Fall des Serienmörders Jack Unterweger (1994) und nach dem Amoklauf von Winnenden (2009) weltweit Beachtung gefunden haben. Auch Haller betont, dass in den Kriminalstatistiken Rausch und Affekt eine viel größere Rolle spielen als psychische Defekte.
„Das Böse steckt in uns allen“
Es gebe, sagt Haller, aber eine gesellschaftliche Tendenz, das Böse auf Kranke und Irre zu schieben, um sich damit selbst in einem falschen Gefühl der Unanfälligkeit für Gewalttaten zu wiegen.