Tiere: Von Natur aus gut
Immer mehr Wissenschaftler aus den Bereichen Biologie, Zoologie und Verhaltensforschung kommen zu dem Schluss: Tiere zeigen moralisches Verhalten. Sie verfügen über erstaunliche gedankliche und emotionale Fähigkeiten.
„Lange Zeit war Evolution nur ein anderes Wort für den Kampf ums Dasein. Der Sieg gehörte denen mit den schärfsten Zähnen. Jetzt stellen immer mehr Forscher fest, dass Tiere durch Hilfsbereitschaft, Mitgefühl und Freundlichkeit viel weiter kommen.“
So heißt es im Sonderheft des Magazins GEO Wissen - Sünde und Moral (Nr. 35, 2005).
Der Artikel beginnt mit der Frage: „Sie meinen, wir Menschen seien die einzigen Bewohner der Erde mit einem Sinn für Moral?“ Und er endet mit den Worten: „Würden Außerirdische auf unserem Planeten nach moralischem Verhalten suchen, wer weiß, ob der Mensch dabei wirklich am besten abschnitte.“
Dies mag manchem Menschen vielleicht nicht gefallen, der sich selbst als Inbegriff von Ethik und Moral und die Tiere als minderbemittelte Kreaturen betrachtet, die man nach Lust und Laune aufessen darf.
Viele Philosophen und Biologen trauten jahrhundertlang nur dem Menschen als „Krone der Schöpfung“ zu, Recht von Unrecht zu unterscheiden und seine Handlungen nach ethischen Regeln auszurichten. Tiere galten bislang als „animalisch“, „viehisch“, „bestialisch“ und „tierisch“. Doch in letzter Zeit stoßen Forscher zunehmend auf „humane“ Umgangsformen bei Tieren wie Einfühlung, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Selbstlosigkeit, Opferbereitschaft, Gerechtigkeit, Freundschaft, Gemeinschaftssinn, Fairness, Versöhnung.
Nun finden sich diese „humanen Umgangsformen“ bei Menschen heutzutage ja eher selten. Nach der Flutkatastrophe von New Orleans beispielsweise wurde nicht von Selbstlosigkeit und gegenseitiger Hilfe der Menschen in der zerstörten Stadt berichtet, sondern von Plünderungen, Schießereien, Morden und Vergewaltigungen.
In Japan wurde beobachtet, wie Affen einen von einem Auto angefahrenen Artgenossen sofort von der Straße zogen. Doch wie viele Menschen sterben am Unfallort, weil keiner anhält und Erste Hilfe leistet? Oder wo finden wir Mitgefühl, Opferbereitschaft und Fairness in Wirtschaft und Politik? Vielleicht ist „tierisches“ Verhalten manchmal viel ethischer als „humanes“? Vielleicht können wir wirklich von den Tieren lernen!
Von der Tsunami-Flutkatastrophe im vergangenen Jahr wurde berichtet, dass keine toten Wildtiere gefunden wurden - sie hatten sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Woher wussten sie von der tödlichen Gefahr? Und haben wir Menschen viele Katastrophen nicht sogar zu verantworten, weil wir unseren Planeten ausbeuten und zerstören? Vielleicht ist die Verbesserung unseres Charakters der einzig sinnvolle „Katastrophenschutz“...
Moralisches Verhalten bei Tieren
Moderne Biologen beschreiben heute moralisches Verhalten bei Tieren, das weiter verbreitet ist, als bislang für möglich gehalten wurde. Führend ist hierbei Frans de Waal, Professor für Psychologie an der Emory Universität in Atlanta und Direktor des „Living Links Center for the Advanced Study of Ape and Human Evolution“ im Yerkes Primate Center in Atlanta. Seit über dreißig Jahren arbeitet er als Verhaltens- und Primatenforscher.
Zunächst beschrieb er die Bausteine der Moralität, psychologische Mechanismen wie Einfühlung, Gefühlsansteckung, Perspektivübernahme und Verhaltensweisen wie Zusammenarbeit, Teilen und Trösten bei Menschenaffen.
Frans de Waal in einem Interview mit der ZEIT vom 17.12.2003: „Es gibt bei Affen zwar keine Rechtssysteme, wie wir sie kennen. Aber es gibt Versöhnungsverhalten, es gibt Individuen, die versuchen, Streit zwischen anderen zu verhindern.“
Doch moralisches Verhalten zeigt sich nicht nur bei Menschenaffen, sondern auch bei anderen Tieren (GEO WISSEN Nr. 35, Sünde und Moral):
Mitgefühl
Elefanten lassen kein Herdenmitglied im Stich. Mit ihren Körpern und Stoßzähnen versuchen sie es zu stützen. Stirbt es dennoch, schleppen sie Zweige herbei und decken den toten Körper zu.
Es ist wohl nicht nur seine Größe, die den Afrikanischen Elefanten zu einem besonderen Tier macht. Seine Tugenden wie Mitgefühl und Freundschaft sind bei uns Menschen in dieser bedingungslosen Form eher selten zu finden. Elefanten entwickeln lebenslange Freundschaften. Sie zeigen ein sehr soziales Verhalten. In den Herden, die 20 bis 30 Tiere umfassen können, werden junge Elefanten von allen beschützt, genauso wie verletzte, trächtige oder alte Tiere.
Opferbereitschaft
Pottwale riskieren ihr eigenes Leben, um Mitglieder ihrer Gemeinschaft gegen angreifende Haie und Orcas zu verteidigen. Im offenen Meer geben sie einander Deckung. Ohne diesen Geleitschutz würde kein Pottwalkalb überleben.
Gemeinschaftssinn
In der Brutgemeinschaft von Eisvögeln gehört Helfen zum Sozialverhalten. Eisvögel nehmen nicht verwandte Artgenossen in ihre Gruppe auf, die auf Nachwuchs verzichten und dafür die hungrigen Schnäbel der Jungen füttern.
Freundschaft
Huftiere machen in der Wildnis und auf der Weide fast alles gemeinsam. Schafe schmiegen ihre Wange an die des trostbedürftigen Freundes, der bei einem Gerangel den Kürzeren gezogen hat.
Woher kommen die "humanen" Umgangsformen der Tiere ?
Woher kommen ihre Ethik und Moral?
Verhaltensforscher Prof. Frans de Waal ist überzeugt: Moral kommt von innen. „Moral ist natürlich, und sie hat eine emotionale Basis, ist nicht nur Sache des Verstandes. ... Sehen, dass jemand Schmerzen hat, aktiviert dieselben Hirnregionen, wie selbst Schmerzen zu empfinden. Moralische Dilemmata aktivieren Hirnregionen, die älter sind als unsere Art.“
Und was ist mit uns Menschen, die wir uns auf unsere Zivilisiertheit so viel einbilden? Wie steht es mit unserer Moral, unserem Mitgefühl, unserer Opferbereitschaft, unserem Gemeinschaftssinn und unserer Freundschaft? Wenn wir ehrlich sind, kommen wir vielleicht zu einem ähnlichen Schluss wie der namhafte Wissenschaftler und Tierforscher Frans de Waal: „Ist die Zivilisation nur Fassade für egoistische Monster?“
Eine andere Frage stellt der bekannte Journalist Volker Arzt (ZDF-Reihen „Naturzeit“, „Achtung, lebende Tiere“): „Was etwa ist die offizielle Sichtweise der römisch-katholischen Kirche wert, wonach Tiere unbeseelt seien, wenn dieselbe Institution dasselbe früher auch von Menschen schwarzer Hautfarbe behauptet hat?“ (Arzt/Birmelin: Haben Tiere Bewusstsein? 1995)
Schon für den großen Evolutionstheoretiker Charles Darwin stand fest, dass „der geistige Unterschied zwischen Mensch und Tier, so groß er auch sein mag, sicherlich nur von gradueller Natur, nicht aber von unterschiedlichem Wesen ist“ (Darwin, Die Abstammung des Menschen, 1871).
Dieser Zusammenhang war durch seine umwälzende Erkenntnis gegeben, dass tatsächlich alle Lebewesen einschließlich des Menschen „zusammenhängen“. Viele Menschen der damaligen Zeit sahen Darwins Erkenntnisse als Erniedrigung des Menschen an - sie könnten „umgekehrt auch als Aufwertung der Tiere verstanden werden“.
Quelle: "Freiheit für Tiere" 1/2006