Es macht mich sehr stolz, in einer Nation der Experten leben zu dürfen. Unglaublich, welches fundierte Fachwissen um die Vorgänge in allen Lebensbereichen, Landschaften und Situationen sich hier - wie auch in den zahllosen anderen Foren - versammelt hat! Ich verneige mich in Ehrfurcht, und schluchze leise vor mich hin: wie gerne wäre ich doch auch so klug und alleswissend! Aber Gott hat mich gestraft, hat mich zum Idioten gemacht, der sich immer erst informieren muss, der erst eigene Erfahrungen sammeln muss, bevor er über etwas Bescheid weiß. Anders als den Gesegneten wird ihm das Wissen nicht telepathisch, auf enzyklopäischen Abruf hin in die Gehirnwindungen gebeamt, er ist nicht Professor Wikipedia, sondern nur der Schleim am falschen Ende der Bildungskette .....
Nein, wirklich. Ich zolle Euch, die Ihr hier ganz selbstverständlich über Schuld und Fahrlässigkeit der Entführten entscheidet, die Ihr selbstverständlich über alle Aspekte glasklar Bescheid wisst, meinen allergrößten Respekt! Aber vielleicht darf ich Euch flehentlich um einen Brösel Eurer geistigen Strahlkraft bitten, erleuchtet mich, und erklärt mir, der ich es nicht von selbst zu sehen vermag:
Es ist also fahrlässig, nach Tunesien zu fahren? Warum? Weil das ein politisch instabiler Staat ist? Nach außen hin sieht das ja nicht so aus, Ben-Ali ist seit über zwanzig Jahren Präsident, Tunesien hat eine funtkionierende Regierung. Und bei uns? Eine Wahl nach der anderen, Koalitionen zerbrechen schneller, als sie geschlossen werden, Bevölkerung und Politik radikalisiert sich schnell und nach rechts von der politischen Mitte, das Parlament wird als Abstimmungsmaschine ohne eigene Meinugnsbildung missbraucht, die Justiz wird einfach ignoriert.
Oder weil Tunesien die Menschenrechte nicht beachtet? Österreich tut das natürlich, und wird deshalb auch nie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen deren Missachtung verurteilt.
Ist es fahrlässig, nach Tunesien zu fahren, weil es dort so gefährlich ist? Komischerweise wusste das Außenministerium, deren Länderberichte die Grundlage für dieses Beurteilen der Gefährlichkeit ist, nichts davon. Zum Zeitpunkt der Entführung gab es keine Reisewarnung für Tunesien, außer der allgemeinen Warnung vor Terrorismus, die auch für Deutschland, die USA, Frankreich, Großbritannien und Österreich gilt!!!!
Ist es gefährlich, in die Wüste zu fahren? Natürlich, aber weniger gefährlich, als in Wien die Ringstraße zu überqueren. Außerdem: Noch wissen wir überhaupt nicht, wo die beiden entführt worden sind. Gerade die südtunesische Wüste ist eigentlich nur ein trauriger Abklatsch der Sahara, und von Touristen dicht bevölkert. Verloren gehen ist dort schwierig, weil eigentlich immer jemand nach spätestens einem Tag vorbei kommt. Trotzdem fährt man normalerweise nicht ganz allein durch die Dünen. Es gibt Pisten, Standardrouten zum bekannten Campingplatz in Douz, dort sucht man sich seine Begleitung für die kommende Tour aus. Noch ist nicht klar, ob die beiden auf einer dieser Routen gefangen genommen wurden. Und vorher über ihre Schuld oder Fahrlässigkeit zu urteilen ist idiotisch. Ich kann mit erstklassiger Ausrüstung zu zweit auf der Standardroute auf den Großglockner gehen, und kein Mensch wird mich deshalb leichtsinnig nennen. Ich kann aber auch durch einen gesperrten Lawinenhang gehen, das wäre fahrlässig.
A propos Sperre: Immer wieder geistert das ominöse "tunesische Sperrgebiet" durch die Medien, wobei so getan wird, als wäre das wie eine Lawinensperre: Gesperrt zum Zwecke der Sicherheit der Reisenden. Das ist natürlich nicht so: Ganz im Süden Tunesiens liegen Erdölfördergebiete, und das Militär will wissen, wer in der Gegend herum kurvt. Deshalb gibt es eine Genehmigung für die Fahrt in dieses Gebiet. Die holt man sich normalerweise am Campingplatz in Douz. Aber zuweilen, wenn der tunesische Staat mehr Tourismus fördern will, wird auch ganz auf die Genehmigungspflicht verzichtet. Darüber hinaus ist diese Zone schon sehr weit im Süden, und man kann/konnte das Erlebnis Wüste schon nördlich davon erleben, ohne einen Gedanken an eine Genehmigung verschwenden zu müssen. Es ist noch nicht geklärt, ob sich die beiden Entführten überhaupt in der südlichen Zone befunden haben!
Ganz Kluge wissen auch von einer Führerpflicht, gegen die die beiden Entführten verstoßen haben. Diese wurde eingeführt, aber erst NACH der Entführung!!!!!
Bis zum Vorliegen von Erkenntnissen, die das Gegenteil beweisen, kann ich beim besten Willen keine Fahrlässigkeit der beiden Entführten sehen.
Aber nun zum anderen Thema, der Mitnahme von Hunden: Das ist tatsächlich eine Angelegenheit, an der sich die Geister scheiden. Wir möchten in zwei Jahren mit dem Auto in die Türkei fahren, und haben uns immer wieder den Kopf darüber zerbrochen, ob wir unsere beiden Jungs mitnehmen sollen oder nicht. Einerseits ist da die Sicherheit, die uns die beiden geben. Ein nächtlicher Einbruch ins Wohnmobil ist eher unwahrscheinlich, wenn Hunde darin sind. Außerdem sind unsere Hunde immer bei uns, auf fast allen unserer Reisen, es tut weh, ohne sie unterwegs zu sein. Aber andererseits handelt es sich um ein moslemisches Land, und das darf man natürlich nicht unterschätzen. Ich habe schon gehört, dass Kinder Steine auf Hunde geworfen haben, das wollen wir natürlich nicht. Tatsächlich war die Hundefrage ein Grund, weshalb wir diese Reise schon einmal verschoben haben. Zufällig trafen wir Wolfgang Ebner am Vorabend seiner Abreise nach Tunesien bei einer Bekannten, und kamen mit ihm ins Gespräch darüber. Er zerstreute unsere Bedenken rasch. Schon viele Male waren er und seine Freundin, die im Hudnesport aktiv ist, in Nordafrika unterwegs; immer mit ihren Hunden. Nach seinem Bekunden habe es niemals auch nur ansatzweise Probleme gegeben. Selbst beim Spaziergang durch die Souks sei man den Hunden mit Respekt, zuweilen auch mit großer Neugierde entgegen gekommen. In Marokko sei sogar eine Familie etliche Kilometer mit dem Auto zu ihrem Lagerplatz gefahren, um die Hunde zu bewundern. Und jetzt das.
Das Problem dabei ist, dass die Entführten bei all ihren Reisen bisher eben nur mit "normalen" Menschen zusammen gekommen sind. Leute wie Du und ich, die an Touristen was verdienen wollen, die neugierig sind, manchmal vielleicht auch genervt; aber nicht gewalttätig, fundamentalistisch, mörderisch.
Nach dem Strafgesetzbuch von Kaiserin Maria Theresia sollte jeder geköpft werden, der aus der Kirche austritt. Dennoch denke ich, dass ich ohne große Gefährdung meines edlen Hauptes heute auch mal in den Dom gehen kann. Eigentlich interessiert es sicher nur wenige Personen rund um mcih herum, ob ich jetzt aus der Kirche ausgetreten bin oder nicht. Aber wer weiß, irgendwo gibt es vielleicht wirklich den einen oder anderen kranken Geist, der sich an das alte Gesetz gebunden fühlt, und der es liebend gerne in die Tat umsetzen würde? Wenn ich einer Gruppe von solchen "Europäern" in die Hände fiele, sähen meine Aussichten auch anders aus.
Und das ist vielleicht der einzige, tragische Irrtum, dem die beiden Entführten verfallen sind: Über all die Jahre, in welchen sie Nordafrika bereisten, erlebten sie Freundlichkeit, Gastfreundschaft, Neugierde, insgesamt eine Öffnung zum anderen hin, und sie erkannten nicht, dass es auch eine andere Seite gab und gibt; die der Radikalisierung, der Fundamentalisten. Es waren ja - nach allem, was bisher bekannt ist - keine Tunesier, welche die beiden entführt haben, sondern eine Gruppe, die eigens zu diesem Zweck über mehrere Tausend Kilometer durch die Wüste gereist sind, um nichtsahnende Touristen zu entführen. Nichtsahnend deshalb, weil es eben keinerlei Hinweis auf eine Gefährdung gegeben hat. Wenn man den Entführungsopfern das vorwirft, dann muss man auch den Bombenopfern von Antalya und Sharm-el-Sheik sagen, sie seien selber schuld. Und denen von New York auch.
Marcus