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Das Triebverhalten des Hundes ist selbst in Fachkreisen des Hundewesens ein ständig umstrittenes Thema. Diese Streitigkeiten und Diskrepanzen haben mittlerweile sogar dazu geführt, dass sich verschiedene Wissenschaftler, Verhaltensforscher und Ausbilder völlig von diesem Begriff getrennt haben und in ihren Seminaren und Workshops nur noch von Verhaltensweisen sprechen. Andere wiederum sehen nur das als Triebverhalten an, was in der Verhaltensforschung als Appetenz, als zweckgerichtetes, auf Bedürfnisbefriedigung zielendes Verhalten, bezeichnet wird - jenes Verhalten also, das für den Hund existentielle Bedeutung hat. Eine völlige Loslösung vom Begriff Trieb ist aus ethologischer Sicht unvernünftig und falsch!
Das Aggressionsverhalten steht in der Wesenspyramide an fünfter und letzter Stelle. Dennoch ist es ein elementarer Faktor des hundlichen Wesens. Aggressionsverhalten ist definitiv kein Triebverhalten, vielmehr resultiert es in nahezu allen Fällen aus - im weitesten Sinne - unbefriedigtem Triebverhalten (Frustration) beziehungsweise aus bestehendem Konfliktverhalten. Jeder gesunde und selbstbewußte Hund ist auch ein konflikt- und somit aggressionsfähiger Hund.
Das Hirngespinst, völlig aggressionsfreie Hunde zu züchten, geistert leider in vielen Köpfen selbsternannter Weltverbesserer.
Der Mensch in seiner Verantwortung für den Hund ist aufgerufen, dessen Aggressionspotential in einer vernünftigen Form kontrollier- und berechenbar zu erhalten.
1.4 Triebverhalten
Bereits zu Beginn dieses Kapitels habe ich darauf hingewiesen, dass das Triebverhalten des Hundes selbst in Fachkreisen ein ständig umstrittenes Thema ist. Die Diskrepanzen zu diesem Themenbereich haben seit geraumer Zeit dazu geführt, dass sich verschiedene Ethologen, Therapeuten und Ausbilder ganz vom Begriff Triebverhalten getrennt haben; sie sprechen einfach nur noch von Verhaltensweisen. Für mich persönlich ist diese Entwicklung nicht nachvollziehbar, da sich Triebverhalten relativ eindeutig definieren läßt. Zudem entgehe ich beim Umgang mit dem Begriff Triebverhalten einem Konflikt, mit dem die Triebkritiker immer leben müssen: jedes Triebverhalten kann als Verhaltensweise bezeichnet werden, aber nicht jede Verhaltensweise ist gleichzeitig Triebverhalten.
Zunächst zur Begriffsdefinition: Triebverhalten ist jedes zweckgerichtete Verhalten des Hundes, das durch endogene (innere) und oder exogene (äußere) Faktoren (Reize) entsteht.
Am Beispiel Futterschüssel leer fressen kann Triebverhalten sehr gut erläutert werden. Hat ein Vierbeiner Hunger, stellt sich - genau wie beim Menschen - der endogene (innere) Faktor Hungergefühl ein. Beim Erkennen seiner Futterschüssel wird das Hungergefühl durch den exogenen (äußeren) Reiz Freßnapf deutlich verstärkt. Das Hinlaufen an die Futterschüssel und das Fressen selbst ist eine eindeutig zweckgerichtete Verhaltensweise (Satt werden, Überleben, Arterhaltung).
Wenn Ihnen meine Begriffsdefinition des Triebverhaltens noch zu kompliziert erscheint, kann ich Ihnen alternativ eine weitere Erläuterung anbieten: Den gesetzmäßigen Funktionskreis der Triebe.
Jede Triebform (Beispiel Hunger, Sexualität, Jagen, Spielen, Fliehen, Markieren) unterliegt der Gesetzmäßigkeit eines Funktionskreises, der aus insgesamt drei Kreissegmenten besteht: Triebreiz, Triebhandlung, Triebbefriedigung.
1. Triebreiz
Wie bereits erläutert, gibt es Triebreize, die von innen kommen und Triebreize, die ihren Ursprung von außen erhalten.
Äußere Reize sind Umweltsignale, die der Hund durch Hören, Sehen, Riechen, Fühlen oder Schmecken aufnimmt und denen er im Bedarfsfall reaktiv begegnet.
Innere Reize können wir Menschen dem Hund leicht nachempfinden, da wir sicher viele innere Signale in ähnlicher Form empfinden und unsere Verhaltensweisen danach ausrichten.
2. Triebhandlung
Auf einen Triebreiz erfolgt - sofern keine Blockierung vorliegt - immer eine Triebhandlung als zweites Kreissegment. Die Triebhandlung ist die wichtige Brücke zum dritten und schließenden Kreissegment, der Triebbefriedigung. Der Hund muß, nachdem er den Triebreiz aufgenommen hat, etwas tun, um zur Befriedigung zu gelangen. Und dieses Tun ist die Triebhandlung.
3. Triebbefriedigung
Jede zweckgerichtete Verhaltensweise setzt ein Ziel voraus. Der Hund will, nachdem er auf einen Triebreiz reagiert, mit seiner Folgehandlung ein bestimmtes Ziel erreichen. Die Ziele, die er dabei verfolgt, dienen fast ausnahmslos der Selbst- und somit Arterhaltung.
Nehmen wir doch abschließend ein paar Beispiele, die den Funktionskreis des Triebverhaltens verdeutlichen werden.
Beim Spiel- und Beutetrieb kann der Triebreiz das Holzstöckchen oder der Ball sein. Die Triebhandlung ist das Nachlaufen, Springen, jagen, Schnappen und Fassen des Spielzeugs. Der Besitz und die Herrschaft über den Spiel- und Beutegegenstand ist die Triebbefriedigung.
Beim Sexualtrieb ist der Triebreiz die läufige Hündin. Die Triebhandlung beginnt mit dem Ritual des Hofierens und Balzens und endet mit dem Deckakt, der letztlich mit der für uns Menschen leicht nachvollziehbaren Triebbefriedigung abschließt.
Als drittes und letztes Beispiel sehen wir uns den Funktionskreis des Fluchttriebes an. Triebreiz ist möglicherweise die Bedrohung durch einen fremden Menschen.
Diesem Konflikt kann ein ängstlicher Vierbeiner nicht widerstehen und läuft panikartig in der Triebhandlung davon. Unter einem parkenden Auto glaubt er schließlich Schutz gefunden zu haben und kommt deshalb zur Triebbefriedigung (Bedrohung ist abgewendet, körperliche Unversehrtheit bleibt erhalten).
Sie sehen, es funktioniert immer und in jedem (Trieb-)Fall. Jetzt wird auch klar, dass jedes Triebverhalten auch als Verhaltensweise bezeichnet werden kann. Umgekehrt geht das aber überhaupt nicht und deshalb werde ich es in meinem Fachbereich keinesfalls zulassen, die Begriffe Triebverhalten und Verhaltensweisen in einen Topf zu werfen.
So ist beispielsweise das Aggressionsverhalten auch eine eindeutige Verhaltensweise aber ganz sicher kein Triebverhalten.
Somit sind auch die häufig verwendeten Begriffe Aggressionstrieb und Kampftrieb völlig falsch und können - ethologisch belegbar - lediglich als Verhaltensweisen bezeichnet werden.
Aggressionsverhalten ist nichts anderes als ein Werkzeug zur Konfliktlösung beziehungsweise dient es der Durchsetzung von Triebzielen.
Fallbeispiel
Ein Hund, der sich gerade an seinem Freßnapf zu schaffen macht, wird durch einen zweiten Hund, der auch mal naschen möchte, gestört. Wütend aggressiv macht ihm der gerade fressende Hund klar, dass nur er berechtigt ist aus diesem Freßnapf zu futtern.
Aggressionstrieb? Nein! Durchsetzung der Triebbefriedigung im Ernährungstrieb mit dem Werkzeug Aggressionsverhalten.
Fallbeispiel
Zwei sehr dominante Rüden treffen aufeinander. Nach kurzem, gegenseitigem Imponiergehabe kommt es zu einer aggressiven Beißerei zwischen den Beiden.
Aggressionstrieb? Nein! Durchsetzung des Triebziels im Rangordnungstrieb mit dem Werkzeug Aggressionsverhalten.
Fallbeispiel
Nach dem Aufnehmen einer Wildfährte kann der Hundeführer seinen Vierbeiner gerade noch am Halsband fassen und will ihn zurückhalten. Plötzlich schnappt der Hund aggressiv bellend nach der Hand seines Besitzers.
Aggressionstrieb? Nein! Durchsetzung des Triebziels im Spür- und Jagdtrieb mit dem Werkzeug Aggressionsverhalten.
Alle nicht zweckgerichteten Verhaltensweisen, die scheinbar unmotiviert ablaufen, die weder einem inneren noch einem äußeren Reiz unterliegen, sind Verhaltensweisen und nicht mehr.
Kommt jedoch von innen oder von außen ein An(T)rieb, der den Vierbeiner zu einer Handlung motiviert, sollten wir auch künftig das Kind beim Namen nennen, nämlich Trieb.
Triebstärke, Triebschwäche
Hunde zeigen sich in ihrem jeweiligen Triebverhalten sehr unterschiedlich und individuell motiviert und strukturiert. So hängt beispielsweise das Potential des Spiel- und Beutetriebes nach eigenen Erfahrungen zu einem sehr erheblichen Teil von genetischen Prädispositionen ab. Dies bedeutet, dass der züchterische Einfluß sehr hoch ist. Es gibt Hunderassen, die insgesamt ein extrem geringes Spiel- und Beutetriebpotential aufweisen. Andere wiederum sind aufgrund ihres sehr hohen Spiel- und Beutetriebes begehrte Partner für viele dienstliche und sportlicheVerwendungen.