Mein Name ist Lupus. Jawohl, ich bin ein Wolf. Mit dem bösen Wolf aus dem Märchen habe ich nichts zu tun. Wer das erzählt, der lügt. Kein Mensch braucht vor mir Angst zu haben. Im Gegenteil - ich bin es, der sich vor den Menschen fürchtet. Vor den meisten jedenfalls. Wenn es sich einrichten lässt, gehe ich ihnen lieber aus dem Weg. Nicht jeder Zweibeiner ist so gutmütig wie der, dem ich neulich begegnet bin. Der hielt mich wohl für einen Hund und pfiff nach mir. Alles was recht ist! Nur gut, dass er nicht genauer hingesehen hat, sonst hätte er seinen Irrtum vielleicht bemerkt und Krach geschlagen. Das ist das Letzte, was ich hier gebrauchen kann. Für die, die es für sich behalten können: Wir Wölfe wirken hochbeiniger als Schäferhunde, die uns entfernt ähnlich sehen. Wir haben aber kleinere, eher runde Ohren, und unseren Blick aus gelben Augen würde kein Mensch als »treu« bezeichnen. Unseren buschigen Schwanz tragen wir würdevoll wie eine Schleppe. Ringelschwänze gibt\'s bei uns nicht. Wer Tierspuren lesen kann, wird uns an unserem Pfotenabdruck erkennen, den wir im Schnee oder im Sand hinterlassen. Er ist länger und schmaler als der eines Hundes.
Überhaupt Hunde! Ein Kapitel für sich. Wir mögen sie nicht besonders, diese vorlauten Kläffer. Sie riechen unheimlich. Unheimlich stark nach Mensch. Wenn es darauf ankommt, halten sie lieber zu ihm als zu uns. Sie sind weder frei noch wild, obwohl sich einige von ihnen so aufspielen. Letztlich - und das will mir nicht in den Kopf, stammt jeder lächerlicher Kläffer, ob groß oder klein, ob schlappohrig oder krummbeinig, ob gestreift oder gefleckt, vom Wolf ab. Schöne Verwandtschaft das!
Aber eigentlich wollte ich ja meine eigene Geschichte erzählen. Also:
Ich komme aus dem Land jenseits des großen Flusses. Meine Heimat sind die dichten, dunklen Wälder, in die sich nur selten ein Mensch verirrt. Dort im Wolfsland, wo die Bäume fast in den Himmel wachsen, bin ich in einer Höhle zur Welt gekommen. Mein ganzes Leben lang werde ich mich an den Duft meiner Mutter erinnern. Warm und weich in ihren Pelz gebettet, verbrachte ich die ersten Wochen wie fast alle Tier- und Menschenkinder. Essend und schlafend und schlafend und essend. Satt und zufrieden. Später stritten wir Geschwister - wir waren zu viert - immer öfter um die beste Milchquellen. Nachdem sie versiegt waren, kümmerte sich unser Vater darum, dass wir satt wurden. Unermüdlich war er auf den Beinen, um Nahrung heranzuschaffen. Selbst für einen Wolf ist es kein Kinderspiel, vier hungrigen Mäuler zu stopfen! Und es kann schon lästig werden, die ewig bettelnde Brut am Hals zu haben. Wolfswelpen haben nämlich einen Mordsappetit und wachsen wie der Teufel.
Schon bald wurde uns Kleinen die Höhle zu eng. Wir entdeckten, dass die Welt bunt und schön und aufregend ist. Von Gefahren, die auch auf dumme, kleine Wölfe lauern, ahnten wir natürlich nichts. Unsere Eltern hatten ihre liebe Not mit uns. Wahrscheinlich ist es leichter einen Sack Flöhe zu hüten als vier unternehmungslustige Welpen. Wir haben sie jedenfalls ganz schön in Atem gehalten! Nach wenigen Monaten waren wir fast so groß wie sie. Schlaksige Halbstarke, noch nicht erwachsen, aber auch keine Welpen mehr. Das war die Zeit, in der wir alles lernten, was ein richtiger Wolf wissen und können muss und in unseren Eltern hatten wir die besten Lehrmeister der Welt. Sie haben uns geduldig gezeigt, wie man Mäuse fängt. Dass manche Beeren köstlich schmecken. Dass es Gräser und Kräuter gibt, die bei Magendrücken helfen. Und - ich will es nicht verschweigen, sie sind mit uns auch auf die Jagd gegangen. So oft, bis wir endlich begriffen hatten, worauf es ankommt. Anschleichen, umzingeln, hetzen und zupacken. Nicht jeder Versuch Beute zu machen war erfolgreich und nicht selten sind wir mit leerem Magen nach Hause gekommen.
Jeder Mensch weiß, dass wir Wölfe uns nicht allein von Gräsern, Wurzeln und Früchten ernähren. Wir würden krank und schwach werden und langsam zugrunde gehen. Ab und zu brauchen wir ein ordentliches Stück Fleisch zwischen den Zähnen. Dass man uns deswegen als »Räuber« beschimpft, ist schon ein starkes Stück. Aber so sind sie nun mal, die Zweibeiner. Sie halten sich für etwas ganz besonderes und glauben, alles auf dieser Welt sei nur für sie da. Sie wollen nicht teilen. Das ist es!
Bevor ich mich aufrege, will ich lieber weitererzählen.
Unsere Kindheit, was war das für eine wilde, sorglose Zeit! Manchmal kamen Verwandte aus einem entfernten Tal vorbei. Genauer gesagt, die Sippschaft meiner Mutter mit Kindern und Kindeskindern. Auf den ersten Blick eine ziemlich verwegenes Pack. Doch an ihren Manieren war nichts auszusetzen. Sie rückten uns nicht einfach auf den Pelz, sondern machten an der Grenze unseres Reviers halt und meldeten sich an. Wenn meine Eltern das hörten, wurden sie ganz aufgeregt vor Freude. Sie ließen alles stehen und liegen und antworteten.
Die Menschen haben dafür ein ziemlich hässlich klingendes Wort. Die Wölfe heulen, sagen sie und ängstigen sich völlig unnötig. Dabei gibt es nichts schöneres als den Gesang eines Wolfsrudels, ganz besonders in einer klaren Vollmondnacht. Und das Singen steckt an. Wer es hört, muss einfach mitsingen, ob er will oder nicht. Wenn Wölfe heulen heisst das ja nichts anderes als: Hallo, wir sind da, meldet euch, wenn ihr auch in der Gegend seid. Oder: Heute Nacht gehen wir auf die Jagd, wer sich anschließen will, ist herzlich eingeladen. Oder manchmal auch: Ich bin alleine und sehne mich nach einem Gefährten.
Alles war, wie es sein sollte und es hätte so weitergehen können, wenn nicht eines Tages etwas Schreckliches passiert wäre. Im Morgengrauen - wir Jungen ruhten todmüde von der nächtlichen Jagd in unserer Höhle - war mir, als hörte ich Geräusche. Seltsam fremd. Auch ein merkwürdig strenger Geruch hing in der Luft, den ich nicht deuten konnte. Jetzt wäre es an der Zeit gewesen, einen Pirschgang zu unternehmen. Doch ich hatte einfach keine Lust, unsere warme Höhle zu verlassen, machte mir nicht groß Gedanken und schlief wieder ein. Ich hielt es noch nicht einmal für nötig meine Geschwister zu alarmieren. Ein unverzeihlicher Fehler, den meinen Eltern - wären sie nur da gewesen - niemals gemacht hätten. Als ich aufschreckte, war es zur Flucht schon zu spät. Ich hörte noch ein Krachen und Poltern, dann einen ohrenbetäubenden Knall. Dann stürzte die Höhle ein. Vier junge Wölfe wurden unter Erdbrocken und Steinen begraben. Aus. Vorbei. Totenstille.
Als ich wieder zu mir kam, war mir, als müsste ich ersticken. In wilder Hast fing ich an zu scharren, blindlings Erde und Steine wegzuschaufeln. Ich wollte raus, nur raus! Nicht lebendig begraben sein. Nicht jetzt schon sterben müssen. Nie wieder den blauen Himmel sehen... Plötzlich sah ich ihn. Ein winziges Stück Blau wurde mein Wegweiser in die Freiheit. Ich arbeitet wie ein Besessener und nahm die Zähne zu Hilfe, um den Erdspalt zu erweitern. Endlich konnte ich mich hindurchzwängen. Geblendet vom hellen Tageslicht, rannte ich blindlings los. Ich rannte um mein Leben. Fort von den kreischenden Maschinen und brüllenden Menschen. Ich war dermaßen damit beschäftigt, meine eigene Haut zu retten, dass ich an meine Geschwister gar nicht dachte. Heute, wo ich älter und weiser bin, schäme ich mich dafür. Ich habe keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist.
An jenem Unglückstag lief und lief ich ohne Pause bis es Abend wurde. Meine Pfoten wurden wund und ich keuchte vor Erschöpfung. Erst als ich plötzlich vor einem breiten, träge fließenden Wasser stand, hielt ich an. So viel Wasser hatte ich noch nie gesehen. Vorsichtig trank ich ein paar Schlucke, dann kühlte ich meine heißen, schmerzenden Pfoten und dann - oh, es war wunderbar, legte ich mich in eine flache Mulde und ließ mir von den plätschernden Wellen den Schmutz aus dem Pelz spülen. Langsam fühlte ich mich besser. Der Nebel in meinem Gehirn löste sich auf. Obwohl ich damals noch ein junger Spund war, unerfahren und gutgläubig, ahnte ich doch, was mir und den meinen zugestoßen war.
Meine Mutter hat uns oft erzählt, dass sich Menschen fürchten, wenn sie durch einen Wald gehen müssen. Je größer, dichter und dunkler er ist, um so mehr fürchten sie sich. (An dieser Stelle lachten wir Kleinen uns halbtot). Deswegen setzen sie sich am liebsten in diese fahrenden Käfige, die sie Autos nennen. Und weil Autos nur auf glatten, breiten Pfaden rollen, die Straßen heißen, müssen Menschen immerzu Straßen bauen. Besonders gern durch Wälder. Dafür fällen sie dann alle Bäume, die im Wege steht. Millionen und Abermillionen Bäume sind so ums Leben gekommen. Einer davon muss genau auf unsere Höhle gestürzt sein!
Am Abend jenes Unglückstages war ich das erste Mal in meinem Leben alleine und tieftraurig. Ich hatte alles verloren, was mir vertraut war: meine Eltern und Geschwister, meine Höhle, meine Lichtung, meinen Wald, meine Welt - meine Heimat. Und obwohl ich hungrig war wie nur ein Wolf sein kann, kroch ich ins nächsten Gebüsch, rollte mich zusammen und schlief ein. Mitten in der Nacht wurde ich plötzlich wach. Hellwach! Meine innere Stimme sagte mir: Du musst weiter, über das große Wasser und noch viel weiter, bis du in eine Gegend kommst, in der deine Sippe einst zu Hause war. Sie ist schön und fast menschenleer und niemand wird dort den Wald vernichten, dich verjagen oder dir nach dem Leben trachten. Die Zeiten haben sich geändert. Auch für dich. Das wird mir kein Zweibeiner glauben, aber es war so. Genau so! Von dem Moment an wurde ich von einer großen Unruhe gepackte. Ich wollte keine Zeit verlieren, denn ich sah meinen Weg so deutlich vor mir, als wäre ich ihn schon einmal gegangen. Dass ich am Ausgangspunkt einer langen, gefahrvollen Wanderung stand, war mir damals gar nicht bewusst. Wie im Traum hatte ich nämlich jenen uralten, fast vergessenen Wolfswechsel gefunden, auf dem meine Ahnen jahrhundertelang nach Westen gezogen sind.
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Überhaupt Hunde! Ein Kapitel für sich. Wir mögen sie nicht besonders, diese vorlauten Kläffer. Sie riechen unheimlich. Unheimlich stark nach Mensch. Wenn es darauf ankommt, halten sie lieber zu ihm als zu uns. Sie sind weder frei noch wild, obwohl sich einige von ihnen so aufspielen. Letztlich - und das will mir nicht in den Kopf, stammt jeder lächerlicher Kläffer, ob groß oder klein, ob schlappohrig oder krummbeinig, ob gestreift oder gefleckt, vom Wolf ab. Schöne Verwandtschaft das!
Aber eigentlich wollte ich ja meine eigene Geschichte erzählen. Also:
Ich komme aus dem Land jenseits des großen Flusses. Meine Heimat sind die dichten, dunklen Wälder, in die sich nur selten ein Mensch verirrt. Dort im Wolfsland, wo die Bäume fast in den Himmel wachsen, bin ich in einer Höhle zur Welt gekommen. Mein ganzes Leben lang werde ich mich an den Duft meiner Mutter erinnern. Warm und weich in ihren Pelz gebettet, verbrachte ich die ersten Wochen wie fast alle Tier- und Menschenkinder. Essend und schlafend und schlafend und essend. Satt und zufrieden. Später stritten wir Geschwister - wir waren zu viert - immer öfter um die beste Milchquellen. Nachdem sie versiegt waren, kümmerte sich unser Vater darum, dass wir satt wurden. Unermüdlich war er auf den Beinen, um Nahrung heranzuschaffen. Selbst für einen Wolf ist es kein Kinderspiel, vier hungrigen Mäuler zu stopfen! Und es kann schon lästig werden, die ewig bettelnde Brut am Hals zu haben. Wolfswelpen haben nämlich einen Mordsappetit und wachsen wie der Teufel.
Schon bald wurde uns Kleinen die Höhle zu eng. Wir entdeckten, dass die Welt bunt und schön und aufregend ist. Von Gefahren, die auch auf dumme, kleine Wölfe lauern, ahnten wir natürlich nichts. Unsere Eltern hatten ihre liebe Not mit uns. Wahrscheinlich ist es leichter einen Sack Flöhe zu hüten als vier unternehmungslustige Welpen. Wir haben sie jedenfalls ganz schön in Atem gehalten! Nach wenigen Monaten waren wir fast so groß wie sie. Schlaksige Halbstarke, noch nicht erwachsen, aber auch keine Welpen mehr. Das war die Zeit, in der wir alles lernten, was ein richtiger Wolf wissen und können muss und in unseren Eltern hatten wir die besten Lehrmeister der Welt. Sie haben uns geduldig gezeigt, wie man Mäuse fängt. Dass manche Beeren köstlich schmecken. Dass es Gräser und Kräuter gibt, die bei Magendrücken helfen. Und - ich will es nicht verschweigen, sie sind mit uns auch auf die Jagd gegangen. So oft, bis wir endlich begriffen hatten, worauf es ankommt. Anschleichen, umzingeln, hetzen und zupacken. Nicht jeder Versuch Beute zu machen war erfolgreich und nicht selten sind wir mit leerem Magen nach Hause gekommen.
Jeder Mensch weiß, dass wir Wölfe uns nicht allein von Gräsern, Wurzeln und Früchten ernähren. Wir würden krank und schwach werden und langsam zugrunde gehen. Ab und zu brauchen wir ein ordentliches Stück Fleisch zwischen den Zähnen. Dass man uns deswegen als »Räuber« beschimpft, ist schon ein starkes Stück. Aber so sind sie nun mal, die Zweibeiner. Sie halten sich für etwas ganz besonderes und glauben, alles auf dieser Welt sei nur für sie da. Sie wollen nicht teilen. Das ist es!
Bevor ich mich aufrege, will ich lieber weitererzählen.
Unsere Kindheit, was war das für eine wilde, sorglose Zeit! Manchmal kamen Verwandte aus einem entfernten Tal vorbei. Genauer gesagt, die Sippschaft meiner Mutter mit Kindern und Kindeskindern. Auf den ersten Blick eine ziemlich verwegenes Pack. Doch an ihren Manieren war nichts auszusetzen. Sie rückten uns nicht einfach auf den Pelz, sondern machten an der Grenze unseres Reviers halt und meldeten sich an. Wenn meine Eltern das hörten, wurden sie ganz aufgeregt vor Freude. Sie ließen alles stehen und liegen und antworteten.
Die Menschen haben dafür ein ziemlich hässlich klingendes Wort. Die Wölfe heulen, sagen sie und ängstigen sich völlig unnötig. Dabei gibt es nichts schöneres als den Gesang eines Wolfsrudels, ganz besonders in einer klaren Vollmondnacht. Und das Singen steckt an. Wer es hört, muss einfach mitsingen, ob er will oder nicht. Wenn Wölfe heulen heisst das ja nichts anderes als: Hallo, wir sind da, meldet euch, wenn ihr auch in der Gegend seid. Oder: Heute Nacht gehen wir auf die Jagd, wer sich anschließen will, ist herzlich eingeladen. Oder manchmal auch: Ich bin alleine und sehne mich nach einem Gefährten.
Alles war, wie es sein sollte und es hätte so weitergehen können, wenn nicht eines Tages etwas Schreckliches passiert wäre. Im Morgengrauen - wir Jungen ruhten todmüde von der nächtlichen Jagd in unserer Höhle - war mir, als hörte ich Geräusche. Seltsam fremd. Auch ein merkwürdig strenger Geruch hing in der Luft, den ich nicht deuten konnte. Jetzt wäre es an der Zeit gewesen, einen Pirschgang zu unternehmen. Doch ich hatte einfach keine Lust, unsere warme Höhle zu verlassen, machte mir nicht groß Gedanken und schlief wieder ein. Ich hielt es noch nicht einmal für nötig meine Geschwister zu alarmieren. Ein unverzeihlicher Fehler, den meinen Eltern - wären sie nur da gewesen - niemals gemacht hätten. Als ich aufschreckte, war es zur Flucht schon zu spät. Ich hörte noch ein Krachen und Poltern, dann einen ohrenbetäubenden Knall. Dann stürzte die Höhle ein. Vier junge Wölfe wurden unter Erdbrocken und Steinen begraben. Aus. Vorbei. Totenstille.
Als ich wieder zu mir kam, war mir, als müsste ich ersticken. In wilder Hast fing ich an zu scharren, blindlings Erde und Steine wegzuschaufeln. Ich wollte raus, nur raus! Nicht lebendig begraben sein. Nicht jetzt schon sterben müssen. Nie wieder den blauen Himmel sehen... Plötzlich sah ich ihn. Ein winziges Stück Blau wurde mein Wegweiser in die Freiheit. Ich arbeitet wie ein Besessener und nahm die Zähne zu Hilfe, um den Erdspalt zu erweitern. Endlich konnte ich mich hindurchzwängen. Geblendet vom hellen Tageslicht, rannte ich blindlings los. Ich rannte um mein Leben. Fort von den kreischenden Maschinen und brüllenden Menschen. Ich war dermaßen damit beschäftigt, meine eigene Haut zu retten, dass ich an meine Geschwister gar nicht dachte. Heute, wo ich älter und weiser bin, schäme ich mich dafür. Ich habe keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist.
An jenem Unglückstag lief und lief ich ohne Pause bis es Abend wurde. Meine Pfoten wurden wund und ich keuchte vor Erschöpfung. Erst als ich plötzlich vor einem breiten, träge fließenden Wasser stand, hielt ich an. So viel Wasser hatte ich noch nie gesehen. Vorsichtig trank ich ein paar Schlucke, dann kühlte ich meine heißen, schmerzenden Pfoten und dann - oh, es war wunderbar, legte ich mich in eine flache Mulde und ließ mir von den plätschernden Wellen den Schmutz aus dem Pelz spülen. Langsam fühlte ich mich besser. Der Nebel in meinem Gehirn löste sich auf. Obwohl ich damals noch ein junger Spund war, unerfahren und gutgläubig, ahnte ich doch, was mir und den meinen zugestoßen war.
Meine Mutter hat uns oft erzählt, dass sich Menschen fürchten, wenn sie durch einen Wald gehen müssen. Je größer, dichter und dunkler er ist, um so mehr fürchten sie sich. (An dieser Stelle lachten wir Kleinen uns halbtot). Deswegen setzen sie sich am liebsten in diese fahrenden Käfige, die sie Autos nennen. Und weil Autos nur auf glatten, breiten Pfaden rollen, die Straßen heißen, müssen Menschen immerzu Straßen bauen. Besonders gern durch Wälder. Dafür fällen sie dann alle Bäume, die im Wege steht. Millionen und Abermillionen Bäume sind so ums Leben gekommen. Einer davon muss genau auf unsere Höhle gestürzt sein!
Am Abend jenes Unglückstages war ich das erste Mal in meinem Leben alleine und tieftraurig. Ich hatte alles verloren, was mir vertraut war: meine Eltern und Geschwister, meine Höhle, meine Lichtung, meinen Wald, meine Welt - meine Heimat. Und obwohl ich hungrig war wie nur ein Wolf sein kann, kroch ich ins nächsten Gebüsch, rollte mich zusammen und schlief ein. Mitten in der Nacht wurde ich plötzlich wach. Hellwach! Meine innere Stimme sagte mir: Du musst weiter, über das große Wasser und noch viel weiter, bis du in eine Gegend kommst, in der deine Sippe einst zu Hause war. Sie ist schön und fast menschenleer und niemand wird dort den Wald vernichten, dich verjagen oder dir nach dem Leben trachten. Die Zeiten haben sich geändert. Auch für dich. Das wird mir kein Zweibeiner glauben, aber es war so. Genau so! Von dem Moment an wurde ich von einer großen Unruhe gepackte. Ich wollte keine Zeit verlieren, denn ich sah meinen Weg so deutlich vor mir, als wäre ich ihn schon einmal gegangen. Dass ich am Ausgangspunkt einer langen, gefahrvollen Wanderung stand, war mir damals gar nicht bewusst. Wie im Traum hatte ich nämlich jenen uralten, fast vergessenen Wolfswechsel gefunden, auf dem meine Ahnen jahrhundertelang nach Westen gezogen sind.
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